Verpflegung beim Militär

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23. Januar 1919

Wenn der deutsche Soldat das bekommen hätte, was ihm zustand, so hätte er ausgiebig zu essen gehabt. Die Portionssätze waren so berechnet, daß jeder gut damit hätte auskommen können. Der deutsche Soldat bekam aber nur einen Teil seiner Verpflegung – der Rest wurde unterschlagen.

Die Unehrlichkeit begann oben. Jedes Amt, durch das Lebensmittel gingen, behielt sich eine kleine Provision zurück, und schwer lastete auf dem ganzen System die Versorgung der Stäbe. Auf dem Papier stand dem ›Selbstverpfleger‹, dem Offizier, genau so viel zu wie jedem Soldaten, und es gab Offiziere, die die Kühnheit hatten, sich auf diesen nie befolgten Satz zu berufen – in Wirklichkeit war es eine Ausnahme, wenn die Stäbe, beim Bataillon angefangen, fleischlose Tage innehielten. Es galt als selbstverständlich, daß beim Lebensmittelempfang alle seltenern und bessern Nahrungsmittel nicht etwa den kranken Soldaten in den Lazaretten zugeführt wurden, sondern den gesunden Offizieren in den höhern Kommandostellen. Die Lebensmittel fielen von oben wie durch ein Sieb herunter und durch noch ein Sieb und viele – unten blieben als Bodensatz Marmelade und Brot, und das bekam der gemeine Mann. Noch der Kompanieführer betrachtete es als sein gutes Recht, für sich zu empfangen; der Küchenunteroffizier war sein Untergebener und tat das seine.

Es wäre falsch, zu behaupten, daß nur die Offiziere sich der Unterschlagung von Nahrungsmitteln zum Schaden ihrer Leute schuldig gemacht haben – der Küchen-Unteroffizier, der Fourage-Unteroffizier, der Proviantamtsinspektor, sie alle, die Lebensmittel zu verwalten oder zu verausgaben hatten, eigneten sich in großem Umfange davon an. Nun soll man dem Ochsen, der da drischet, nicht das Maul verbinden; aber diese Bullen droschen nicht und nahmen das Maul überreichlich voll. Nie hat ein Soldat seinem Kameraden, der da kochte, verübelt, wenn er ein Stückchen Fleisch für sich briet – aber sie schickten kistenweise die Lebensmittel nach Hause, und kein Offizier hinderte sie daran. Besonders zum Schluß des Krieges, als die Lebensmittelnot in Deutschland immer größer wurde, nahm die Korruption überhand.

Die Mehrzahl der Offiziere bis zum Hauptmann und alle höhern Chargen lebten über Gebühr gut und saturiert. Es fiel ihnen nicht im Traum ein, ihre Lebenshaltung mit der des Soldaten zu vergleichen. Viele Offiziere versorgten ihre Familien völlig aus Heeresbeständen oder mit Lebensmitteln, die sie sich vermöge ihrer militärischen Stellung leicht und billig verschaffen konnten. Dem Mann blieb das meist versagt. Ein mir bekannter Hauptmann schaffte 1917 einen jener großen Auto-Omnibusse, die bei der Truppe verwendet wurden, vollständig bepackt mit Lebensmitteln nach Hause – kurz vorher hatte er einen Werkmeister einsperren lassen, weil der sich bei einem Bauern ein Viertel Pfund Butter zu erstehen versucht hatte. Die höhern Kommandostellen mißbrauchten fast alle die ihnen dienstlich zur Verfügung stehenden Transportmittel, um Lebensmittel in die Heimat zu schaffen.

Auf einem solchen Grund gedeiht der Patriotismus. Am ersten September 1917, als der erste Aufruf zur Gründung einer deutschen Vaterlandspartei erschien, weilte der Herzog von Mecklenburg-Schwerin Adolf Friedrich bei einer Etappen-Formation im Osten, Er speiste an diesem Tag im Kasino, und es gab: Klare Bouillon mit Fleischklößchen, Karpfen blau mit Meerrettich und Salzkartoffeln, Geflügel, Rindfleisch mit Kompott, süße Speise, Kaffee und Kuchen, Zigarren und Liköre. Unter der Vaterlandskundgebung stand: Adolf Friedrich, im Felde.

Die Korruption und die Verkennung der Lage fraß nach unten weiter. Es brauchte gar nicht ein sehr bekannter Berliner Kommerzienrat zu sein, der im Hauptquartier für die Mitglieder des Kaiserlichen Automobilklubs aus Steinberger Cabinet Bowle ansetzte: jeder gewöhnliche Landgendarm in den besetzten Gebieten nutzte Zeit, Kraft und Dienstwerkzeuge aller Art ausschließlich für sich aus. Dem Ansehen unsres Volkes hat das unendlich genützt.
Das Eigentumsgefühl für Lebensmittel, die dem Staate gehörten, war im Heer vollkommen verloren gegangen.

Es hat wohl kaum einen Zahlmeister oder Feldwebel gegeben, der die Löhnung der Soldaten unterschlug und für sich verwendete; tat ers doch, so war das eine schimpfliche Ausnahme, der man bald auf die Sprünge kam, und die man erbarmungslos verabschiedete und bestrafte. Sobald es sich um Genußmittel handelte, schwanden alle Bedenken. Es fand auch niemand mehr etwas dabei: man bedauerte nur, nicht selber an der einträglichen Stelle zu sitzen; man schimpfte aus alter, lieber Gewohnheit, machte es aber grade so, wenn man nur konnte.

Der ›Küchenbulle‹ stahl, es stahlen der Feldwebel und der Kompanieführer, und es unterschlugen wissentlich auch die höhern Offiziere. Denn sie wußten ja alle, woher diese ganze Herrlichkeit rührte, und man muß sich nun nicht den Offizier, der seinen Leuten das bißchen Essen wegnahm, so vorstellen wie den Russen in der Posse: nachts heimlich mit der Kerze in der Hand an den Wurstschrank der Kompanie schleichend – das wickelte sich alles viel einfacher und vor allem viel vornehmer ab. Der Bursche empfing. Der Herr aß und schickte nach Haus. Der Mann hungerte.

Wie schlecht der Geist im Heer gewesen ist, zeigte sich vor allem bei den kleinen wirtschaftlichen Unternehmungen, die jede Truppe, im Stellungskrieg und in der Etappe, angefangen hatte. Da gab es Schlächtereien und Selterswasserfabriken, landwirtschaftliche Betriebe und – die Kantine. Ach ja, die Kantine! Warum sie überhaupt etwas über den Bruchschaden hinaus verdiente, blieb unerklärlich.

Der Kantinenfonds sollte dazu dienen, auf Kosten begüterter Soldaten den ärmern und der Allgemeinheit etwas zugute kommen zu lassen. Meine Formation hatte einen Kantinenfonds von annähernd hunderttausend Mark. Ich habe nie einen Pfennig davon zu sehen gekriegt. Die meisten Fonds sind überhaupt nicht aufgeteilt worden, die leitenden Offiziere oder untern Chargen haben die Beträge in die eigene Tasche gesteckt. Eine Rechenschaft wurde den Leuten über ihr Geld nicht abgelegt; das verstoße gegen die Disziplin, sagte einmal ein Offizier. Es verstieß aber nicht gegen die Disziplin, daß die Gelder in dunkeln Händen waren, daß Ein- und Verkäufe vorgenommen wurden, die das Tageslicht zu scheuen hatten. »Mit Soldaten bin ich nach Rumänien gezogen; mit schachernden Handelsleuten ziehe ich wieder hinaus«, soll der alte Mackensen gesagt haben. Ich traue ihm diese Kenntnis seiner Leute nicht zu.

Wir haben gesehen, daß in dem großen Organismus des deutschen Heeres für Ehrlichkeit und saubere Wirtschaft wenig Platz war. Es ist das kein Wunder: wenn der Staat im Staate, den das Militär darstellte, für anständige Gesinnung nichts übrig hatte, aber desto mehr für zuverlässige, wenn das Vorgesetztenverhältnis nicht nur über Menschen, sondern auch über Würste und Butterfässer ausgedehnt wurde – wohin sollte das führen! Ich weiß nicht, ob es bei den andern Nationen ebenso schlecht bestellt gewesen ist: verlogener kann es nicht zugegangen sein. Bei feierlichen Anlässen trat das Offizierkorps zusammen, trat die Truppe zusammen; jeder wußte vom andern, wie viel Geld und wie viel Schmutz an seinen Fingern klebte: aber doch donnerten die Reden von preußischer Sauberkeit und von der Unantastbarkeit unsres Offizierkorps. Die Zensur zu Hause tat das ihrige, um aufbrechende Beulen zu überkleben.

Es ist doch nun vorbei, nicht wahr? Warum noch einmal das Alte aufrühren? Warum noch einmal von alledem sprechen, obgleich vielleicht das Ausland diese Arbeit übersetzen wird?

Weil wir aus der Lüge heraus wollen. Weil wir es nicht mehr ertragen können, in einer Fibelwelt zu leben, die den andern für viel dümmer hält, als ein Mensch nur sein kann. Wir alle wissen, daß unser Heer, daß unser Volk im Kriege moralisch nicht intakt geblieben ist, nicht sauber bleiben konnte. Es wird bei vierzehn Millionen Kriegern immer Schweinehunde zu Hunderttausenden geben – aber man soll das empfinden und soll sie bestrafen. Darum ist das hier alles gesagt. Und die Diebstähle andrer Güter? Und die kleinen Mädchen? Und die großen Requisitionen? Davon das nächste Mal.

Ignaz Wrobel (Kurt Tucholsky) – Die Weltbühne, 23.01.1919, Nr. 3, S. 87.

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