Wer einen Erwachsenen leiden sieht, kann allenfalls noch hartherzig vorbeigucken. Aber wer ein Kind leiden sieht, dem läuft es, wenn er noch ein einigermaßen anständiger Kerl ist, dreimal den Buckel herunter.
Beim Kind liegt noch offen zutage, was der liebe Gott mit den Menschen eigentlich vorgehabt hat. Beim Kind wirkt Schmerz und Elend doppelt stark, weil es in den meisten Fällen ganz wehrlos ist und weil die großen Augen sagen: Warum denn nur?
Warum?
Der Graf Harry Keßler, der bekannte Pazifist, hat fortgesetzt, was früher in langen Jahren regelmäßig Albert Kohn im Auftrage des Vorstandes der Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker tat: er hat Berliner Proletarierwohnungen mit ihren Bewohnern, und vor allem mit den Kindern darin, fotografiert. Ich war bei einigen dieser Aufnahmen dabei.
In den Indianerbüchern steht immer etwas von dem Gefangenen, der sich, in einer Höhle auf Stroh und Lumpen, gefesselt, wälzt. Aber ich muß sagen: dieses hier war viel schlimmer. Denn doppelt rührend und doppelt ergreifend wirkt in diesem entsetzlichen Elend das Bestreben dieser kümmerlichen Armut, doch immer noch in all dem Jammer so etwas wie Ordnung oder gar Behaglichkeit herzustellen. Natürlich geht es nicht. Und es kann nicht gehen, weil nichts mehr da ist: keine Wäsche, keine Möbel, keine Beleuchtung und keine Heizung.
Nicht mehr … Denn was da an Hausrat auf manchen Bildern noch zu sehen ist, das stammt ja alles aus dem Frieden, ist alles damals, als man den Preis für solche Sachen noch erschwingen konnte, zusammengekauft und steht nun heute da: von der Zeit und den Mäusen angefressen, verdreckt, abgestoßen und halb unbrauchbar. Aber nichts kann weggeworfen werden.
Und in diesem Milieu wachsen Menschen auf, entstehen Kinder.
Der Mann für Ruhe und Ordnung fragt entrüstet, warum denn diese Leute so viele Kinder hätten. Diese Kinder des niedersten Proletariats verdanken ihre Existenz, so brutal das klingt, der Wohnungs- und der Bettennot, dem Mangel an Heizmaterial und der Unbeholfenheit der Frauen, sich gegen den Kindersegen zu wehren (was ein überholtes Strafgesetz heute noch verbietet). Diese Kinder leben, weil … Es gibt ein bitteres Wort einer alten Zeitungsverkäuferin, die auf die Frage, warum sie denn in ihrer Armut noch zehn Kinder in die Welt gesetzt habe, geantwortet hat: »Die reichen Leute jehen abends ins Theater … «
Da leben Kinder. Wir haben Kinder gesehen, Mädchen von sechs und sieben Jahren, die waren 90 Zentimeter hoch, und andere, die den ganzen Tag nicht auf die Straße gehen konnten, weil sie mit Ausnahme eines kleinen Kittels ganz nackt waren. Der Ernährungszustand ist durchweg trostlos: die Kinder leben von Brot und Margarine und Kohl. Ein Mädchen schlief zwei Meter von einer Kellertür entfernt neben Lumpen auf dem Steinfußboden. Die Tür schloß nicht, sie ließ einen handbreiten Spalt frei. Daß ein Kind in dieser Proletarierwelt im Bett allein schläft, kommt kaum vor. »Die sittliche Verderbnis der unteren Stände« – man sollte jedem Pastor, der so etwas in den Mund nimmt, die Bibel um die Ohren hauen. Mag er hingehen und sehen: die Wohnungen, in die kein kaiserliches Marstallpferd hereingegangen wäre, diese muffigen, schwarzdunklen Kellerlöcher mit ein paar alten Bettstellen darin, wo Kinder schlafen, sollte er sehen!
Und das Allerschlimmste an diesen Dingen ist: dass es sich hier nicht nur um Arbeitslose handelt, sondern um Familien, deren Erwerber eine kleine Stellung haben und verdienen. Und es nützt ihnen gar nichts. Wer früher in die Fabrik ging, zählte kaum zum Lumpenproletariat. Und heute?
Die Kinder rachitisch, tuberkulös, skrofulös, heruntergekommen. Die Mütter leben zum Teil von den Resten der Quäkerspeisung, die die Kinder übriglassen. (Wie ist es mit ein bißchen Spott gegen Amerika, ihr Witzblätter?) Die Kinder sehen alles, hören alles, sind bei allem dabei. Was für Menschen werden das?
Die bürgerliche Presse, die sonst von diesen Dingen wenig Notiz zu nehmen pflegt, hat diesmal, weil sie in Keßler nicht den Pazifisten, sondern nur den Grafen sieht, ein wenig reagiert. Zum Wohl dieser Unglücklichen. Es wird eine Hilfsaktion eingeleitet werden. Und jeder Tausendmarkschein sei gesegnet – gleichviel, von wem er kommt. Denn es handelt sich um deutsche Kinder.
Aber hier ist der Augenblick, sich zu erinnern. Angesichts dieser Bilder sollt ihr nachdenken, wer das deutsche Arbeitervolk in diese Hölle gejagt hat! Wer hat vier Jahre lang mit dem Blut und dem Geld dieser Menschen gewüstet? Wer hat in größenwahnsinniger Vermessenheit halb Europa zum Schlachtfeld gemacht, halb Europa zur Etappe mit Stabsquartieren, in denen man die Butter fingerdick aß, und soff, bis den Herren der Alkohol zu den Augen hinauslief? Wer hat sinnlos Milliarde auf Milliarde verschwendet, verfahren, verschossen, verludert?
Hindenburg, Ludendorff, Helfferich und die Seinen.
Aber auch ohne diesen Krieg tobsüchtiger Preußen klagen diese Bilder an. Der normale Bürger wird, wenn er ein Herz hat, jene Regung weinerlichen Mitleids verspüren, die ihn da sagen läßt: Wie entsetzlich! Wie schrecklich!
Aber nicht einer von denen, die aus dem Elend dieser Wehrlosen ihre Bezüge haben, nicht einer von denen, deren breite Betten auf Kinderleichen stehen, wird sich auch nur einen Pfennig vom kapitalistischen Ertrage wegnehmen lassen. Hilfe! Bolschewismus! Und jener vierundzwanzigjährige Lümmel, der gestern geheiratet hat und in Papachens Geschäft eintrat, wo man Massenkonfektion macht: er wäre empört und verstände es nicht, wenn du ihm sagst, dass seine hundertzwanzigtausend Mark Jahreseinkommen in der Kehrseite so aussehen.
Die Bilder klagen eine Welt an. Die Kinderhölle in Berlin? Die Kinderhölle des Kapitalismus.
Ignaz Wrobel (Kurt Tucholsky) , Freie Welt , 28.11.1920
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