Über das revolutionäre Berlin April 1848

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11. April 1848

Es sind nun fast vierzehn Tage her, daß ich , von Paris zurückgekehrt, hier in Berlin lebe, und noch immer ist mir die veränderte Physiognomie Berlins eine auffallende Erscheinung. Als wir, in der Nacht zum ersten April durch das Potsdamer Tor einfahrend, an dem Kriegsministerium in der Leipziger Straße vorüber kamen, vor dem, statt des militärischen Ehrenpostens, zwei Studenten mit roten Mützen Wache hielten, die ihre Zigaretten rauchten, glaubte ich wirklich zu träumen.

Aber wie stieg erst meine Verwunderung, als ich in den nächsten Tagen die Straßen Berlins ohne Militär sah; als keine Gardeoffiziere, bei Kranzler Eis essend, ihre Füße über das Eisengitter des Balkons streckten; als mir alle die Schilder fehlten, welche vor wenig Wochen so stolz mit dem Titel „Hoflieferant“ geprangt hatten, und als an allen Ecken unzensierte Zeitungsblätter und Plakate, ja selbst Zigarren verkauft wurden, während sonst das Rauchen auf der Straße bei 2 Thlr. Strafe verboten und sogar die Inschriften der Leichensteine zensurpflichtig waren.

Verwüstungen durch die Revolution bin ich in der Stadt nicht gewahr geworden, soweit sie vom Volk ausgegangen sind, denn die Spuren der Kartätschenkugeln an den Häusern sind nur zu sichtbar. Nur in der Nähe des neuen Tores sind die Artillerievorratshäuser niedergebrannt, und dadurch ist ein sehr beklagenswerter Verlust an Kriegsgerät herbeigeführt worden. Aber nirgends hat sich das Volk gegen die Paläste des Königs oder der Prinzen gewendet, nirgends das Eigentum angetastet; und es ist mir eine Genugtuung, daß selbst der König in allen Proklamationen den Edelmut und die Mäßigung der Kämpfenden lobpreisend anerkannt hat.

Was mir aber, im Hinblick auf Paris, schmerzlich auffiel, das ist der Mangel an Freudigkeit über den Sieg, der fehlende Schwung des Enthusiasmus, die mich in Paris so sehr überraschten. Keine begeisternden Lieder, keine jener siegestrunkenen Zurufe, welche dort von Mund zu Mund gingen und so elektrisch wirkten. […] Was mich beängstigt, ist das Gefühl der Unsicherheit, das ich hier an so vielen Menschen wahrnehme und von dem in Paris keine Spur vorhanden war. […]

Es ist wahr, die Bürokratie ist höflich geworden, der alte Minister Kamptz, der vieljährige Verfolger der deutschen Burschenschaft, geht mit der dreifarbigen Kokarde am Hute unter den Linden spazieren. Vor dem Palais des Prinzen von Preußen, das als ein Nationaleigentum erklärt ist, halten Studenten Wache, im königlichen Schlosse das Künsterkorps, die Bürgerwehr hat die übrigen Posten besetzt, und die Sicherheit der Straßen ist vollkommen, auch ohne die Aufsicht der Gendamerie. Wir haben auch Volksversammlungen, Klubs, an denen sich tüchtige Männer beteiligen, in denen vortreffliche Reden gehalten werden sollen.

Männer und Frauen der arbeitenden Stände stehen an den Straßenecken, an den Brunnen, um die angehefteten Plakate zu lesen, fordern Erklärungen und verstehen alles, was man ihnen sagen kann, auf halbem Wege. Die Handwerker, die Gesellen sollen vollkommen in der Zeit, vollkommen auf der Höhe der Ereignisse sein; ein großer Teil der Bevölkerung sieht mit opferfreudiger Begeisterung in die Zukunft – aber der Untertänigkeitsgeist eines absolutistisch regierten Volkes, die Angst vieler Besitzenden vor möglichen Verlusten und der weit verzweigte bürokratische Kastengeist sind damit noch lange nicht überwunden.

(aus: Fanny Lewald , Erinnerungen aus dem Jahr 1848 , Frankfurt 1969 , S. 74 ff. )

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