Märzstürme (Vorwort für das Theaterstück)

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6. März 1980

Es gibt viele Arten, einen Menschen unfrei zu machen und zu halten. Eine davon ist, seine Erinnerungen auszulöschen. Es geht um Wurzeln. Dass nicht nur Bäume Wurzeln haben, dass die Gegenwart, so wie sie ist, nicht jeden Tag aufs Neue ausgewürfelt wird, sondern gewachsen ist aus der Vergangenheit, weiss jeder.

Als die Industrien des Ruhrgebietes massenhaft Arbeitskräfte benötigten, kamen die Menschen aus vielen Regionen der Welt und wurden Industriearbeiter. Aus Dörfern wurden Arbeiterquartiere, aus vielen Städten ein Revier, das Ruhrrevier. Für die Arbeit  und das Leben gab es kein Vorbild in der Vergangenheit. Sie mussten Pioniere sein. Dennoch ist nichts von dem, was sie taten, um sich ein würdiges Leben zu erkämpfen, Teil unserer Geschichte.

Wie sie lebten, was sie taten, wofür sie kämpften. wie und warum sie streikten: nichts davon ist greifbare Historie, anerkannte Überlieferung. Schulgeschichtsbücher schweigen darüber, sind aber umso beredter, jede Sudelei zu konservieren, die Arbeitskämpfe als nationales Unglück illustrieren, den Ausdruck von Selbstbewußtsein als Gefahr für Freiheit und Demokratie darstellen. Wenn heute Gewerkschaften wirklich Einfluss hätten, dann müsste dies daran zu erkennen sein, dass Frauen und Männer, die ehrlich für ein besseres Leben kämpften, nicht mehr als Volksverderber und Verbrecher geschildert werden könnten. Jeder Standesverband, ob Zahnärzte oder Juristen, hat mehr Macht die Verunglimpfung von Standesgenossen zu verhindern.

Es ist jetzt 85 Jahre her, dass ein kleiner Klüngel rechtsradikaler Beamter und Militärs die Republik beseitigen wollte. Militär und Beamtenschaft, Polizei und Besitzbürgertum waren nicht bereit, die Republik zu retten. Die Proletarier in Deutschland, besonders im Ruhrgebiet, egal ob Christen,  Kommunisten, Sozialdemokraten oder Anarchisten haben ihren Lohn aufs Spiel gesetzt, ihren Arbeitsplatz und ihr Leben. Sie haben gestreikt und als auf sie geschossen wurde, haben sie selbst zum Gewehr gegriffen, oder auch, wenn es keins gab, zum Knüppel. Was 1933 nicht gelang, konnte 1920 noch verhindert werden:  die Diktatur von grössenwahnsinnigen Herrenmenschen.

Der Ruhrkampf für Freiheit und Sozialismus ist ein Stück wichtiger Geschichte und dazu noch ein Stück Heimatkunde: überall gibt es Straßen, Plätze, Häuser, gibt es Zeugnisse, die daran erinnern, daß der „kleine Mann“ Geschichte machte, das Heft der Politik selbst in der Hand hielt.

Über dieser Geschichte liegt ein dickes Tuch von Schweigen, und über dem Tuch liegt noch ein Tuch, ein Netz, ein Tarnnetz aus Lügen und Verleumdungen. Es ist an der Zeit, daß ein frischer Wind kommt und dieses Netz davon weht – ein Frühlingssturm!“

Peter Möbius 1980 für das Programmheft des Theaterstücks ,, Märzstürme “ von Hoffmanns Comic Theater

(Leicht gekürzt und bearbeitet von Frank Baier und Michael Zachcial , 2005, für das Booklet von „Keine Bange Leschinsky!“)

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