Bevor ich auf die Kämpfe von 1918 zu sprechen komme, möchte ich vorher ein Erlebnis einflechten, das für meine Wandlung von entscheidender Bedeutung wurde. Als wir 1915 zur Offensive vorrückten, da stießen wir über die feindlichen Linien vor. Wir durchschritten ein Gebiet, das vorher Franzosen und Engländer gehalten hatten. Wir trafen auf ein Leichenfeld. Die Gefallenen waren Franzosen, Engländer, Slaven und Deutsche. Die Toten hatten sechs Monate unbeerdigt gelegen. Die Leichen sahen schwarz aus, aus den Augenhöhlen quoll eine dicke gelbe Materie. Der Leichengestank war furchtbar. Man konnte nicht einige Minuten dort weilen, ohne sich das Taschentuch vor Nase und Mund zu pressen.
Ich habe aber stundenlang bei diesen Leichen gestanden und mir die Frage immer und immer wieder vorgelegt: was würden die Angehörigen, die ihre Lieben „“fürs Vaterland““ hinausgesandt haben, tun, wenn sie ihre Männer, Väter, Brüder, Söhne in diesem Zustand sehen würden? Ich glaube, dann würden sie alle Hebel in Bewegung setzen, um diesem Morden ein Ende zu bereiten. Ich habe einen sehr schweren Kampf durchkämpft. Meinen Kindheitsglauben hatte ich verloren, aber eine neue Weltanschauung noch nicht gefunden. Dieses Rätsel ist von mir selbst und von den anderen, die ich fragte, nicht gelöst worden.
Während der Offensive 1918 sind wir von Cambrais vorgestoßen. Es war eine Zeit, wo unsere Verpflegungsschwierigkeiten auf den Gipfel gestiegen waren. Wir bekamen pro Tag einen gestrichenen Eßlöffel Marmelade und ein derartig geringes Quantum Brot, daß wir uns kaum auf den Beinen halten konnten. Wir mußten Märsche von 40 bis 50 Kilometer pro Tag machen. Erst vor Amiens kam es zum Halten. Es hieß, daß die Franzosen Verstärkungen erhalten hätten. Wir bekamen die Wahrheit dieser Meldung bald .zu spüren.
Wir hielten an einer Waldecke, 100 Meter von unserer eigenen Artillerie. Die Artillerie begann von unserer Seite ein Trommelfeuer, eine halbe Stunde später setzte von drüben ein noch heftigeres Trommelfeuer ein. In einer Entfernung von 20 Metern schlug eine Granate ein. Ich merkte, es war ein Volltreffer, sie krepierte. Ich hörte schreien, und in acht Meter Entfernung brach ein Telephonist zusammen, der die zerstörten Drähte nach dem Beobachtungsstand reparierte. Es war ein junger Mensch, der achtzehn Jahre zählen mochte, aber wie ein Sechzehnjähriger aussah. Er war schwer getroffen. Wir bemerkten, daß sein Unterschenkel nur noch an der Wickelgamasche hing. Der Verwundete schrie immerfort: „“Mutter! Mutter! „“
Dieser Vorgang hatte mich so erschüttert, daß ich nicht wußte, was ich denken und tun sollte. Mein eigenes Pferd war durch die Granate erschlagen worden. Wir mußten aus der Waldecke heraus. In diesem Augenblick trifft meinen Kameraden, mit dem ich vier Jahre im Felde war, eine Granate und riß ihm das ganze Kreuz heraus. Er blieb noch fünfzehn Minuten am Leben. Seine Augen waren schon völlig verglast. Er schrie andauernd meinen Namen. Dieser Anblick und die völlige Ohnmacht, nicht helfen zu können, haben mich so erschüttert, daß mich die Leute, die mich später bei meiner Rückkehr zu unserem Standort sahen, für geisteskrank hielten.
Vor dem Rückweg hatte ich aber noch selbst weitere schwere Erlebnisse. Ein Infanterist, der aus der Feuerlinie kam, gab mir irrtümlich einen falschen Weg an. Ich geriet nun selbst mit meinem neuen Pferd, es war das Pferd des erschossenen Kameraden, in den feindlichen Geschoßhagel. Mein Pferd bäumt sich, überschlägt sich, ich gerate unter das Pferd und bleibe in dieser Stellung, vom Sturz betäubt, sechs Stunden lang liegen. Als deutsche Soldaten später diese Stellung einnahmen, fanden sie mich und zogen mich hervor.
Wir rückten nun 200 bis 300 Meter vor, dann wurde das Feuer so intensiv, daß wir uns in Deckung bringen mußten. Es befanden sich dort kleine Infanterielöcher, die nur für einen Mann bestimmt waren. Wir suchten zu Zweien in einem Loch Unterschlupf und warteten durstig, hungrig und frierend auf ein Schwächerwerden des rasenden Feuers. Aber das Feuer schwoll noch an. Eine Granate schlägt in unserer Nähe ein und die aufgeworfenen Erdmassen verschütteten uns. Erst nach geraumer Zeit gelang es anrückenden Verstärkungen, während einer Feuerpause, uns auszugraben. Wir mußten dann den Rückzug antreten. Unsere Truppen konnten sich nicht mehr halten. Wir kamen dann in Ruhe in die Nähe von Verdun.
Ich hätte mich, da ich infolge der Verschüttung eine Gehirnerschütterung erlitten und auch einen Kontusionsschuß erhalten hatte, krank melden und ins Lazarett stecken lassen können. Aber ich hatte zur Genüge gesehen, wie die Militärärzte mit den verwundeten Kameraden umgingen und wußte, was ich von ihrer Behandlung zu halten hatte. Ich meldete mich von neuem zur Front und wurde einer Maschinengewehrabteilung zugeteilt. Trotzdem geriet ich wider Willen in die Klauen der Militärärzte. Als ich zur Maschinengewehrabteilung abkommandiert wurde, eiterten meine Füße infolge eingewachsener Nägel.
Ich mußte deswegen zur Revierstube. Hier sah mich ein Arzt, der meine zwangsweise Überführung in das Lazarett bei Verdun zwecks Operation anordnete. Im Lazarett fragte ich den mich behandelnden Arzt, ob mir die Nägel wieder herausgerissen werden sollten. Ich hatte im Frieden schon eine derartige Operation durchgemacht. Der Arzt sagte, das ginge mich nichts an, das machen wir, wie wir wollen. Es stellen sich sieben Mann um mich herum, hielten mich fest und der Chirurg riß mir die Nägel heraus. Ich zitterte, bekam Angstzustände, wurde unruhig und fing an zu toben. Ihn mich zu beruhigen und zu zeigen, daß man fertig sei, zeigte man mir die Zerschundenen Zehen. In meinem Erregungszustand erschien mir dies wie Hohn. Ich bekam nun regelmäßige Angstzustände und wehrte mich mit den Fäusten gegen jeden Verbandwechsel. Daraufhin wurde ich einem Lazarett für Nervenkranke in Süddeutschland überwiesen.
Hier fand ich vernünftige Ärzte, Leute, die vor allen Dingen auf die Psyche, auf die Seele des Kranken Wert legten, die genau wußten, daß sie mit roher Behandlung sich nicht die Zuneigung der Kranken erwerben könnten. Nach sieben Wochen war ich soweit geheilt, daß ich als garnisondienstfähig entlassen werden konnte. Ich kam nun in die Kaserne und sollte dort Dienst machen. Hier zeigte es sich aber, daß meine Nerven weit mehr gelitten hatten, als man bisher angenommen hatte. Ich war dienstunfähig, und man schickte mich auf Erholungsurlaub ins Vogtland zu meiner Frau.
Meine Kopfschmerzen waren seit meiner Verschüttung so heftig gewesen, daß ich oft verzweifelte. Die Bahnfahrt hatte mich sehr angestrengt. Es stellten sich derartige Kopfschmerzen ein, daß ich glaubte, wahnsinnig zu werden. Unter dieser Vorstellung beging ich den Selbstmordversuch, von dem die medizinischen Sachverständigen berichtet haben. Ich wurde nunmehr als militärdienstuntauglich mit einer monatlichen Rente von 40 Mark entlassen.
Nach dem stenografischen Bericht, herausgegeben v Felix Halle ,1921 – herausgegeben Packpapier 45 Osnabrück Verlag und Versand – Max Hölz – Rede vor Gericht , am 22. Juni 1921 , Moabit , Berlin
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