Keuschheit eine lange Qual

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10. Mai 1788

Die Keuschheit ist entweder eine Temperamentstugend oder eine lange Qual, ein beständiger, oft der Gesundheit nachteiliger Kampf mit unserer, wie man sagt, sündhaften Natur. Wenn dieser peinliche Kampf auch mit dem Siege gekrönt wird, welches oft nicht der Fall ist, wie teur kommt uns ein solcher durch die grössten Opfer erkaufte Sieg nicht zu stehen.

Denk darum nicht Simmias, daß ich ein Lobredner der Exzesse, ein Apostel der Wollust sei. Ich wünsche nur, daß gewiße gramliche Moralisten, welche im Punkt der physischen Liebe die fatale Philosophie der alten Matronen und Betschwestern haben, nicht von allen Menschen ohne Ausnahm forderten, was Einigen möglich ist. Mit weiser Maßigung genießen, ist die große Vorschrift der Philosophie. Wir sollen unsere Zeit zwischen Arbeit und Vergnügen teilen, nicht mahnen wir handelten der Absicht der Natur gemäß, wenn wir vergebens einen Trieb zu unterdrücken streben, den sie uns gewiss nicht zu dem Ende eingepflanzt hat. Sind aber darum all und jede Arten des Vergnügens erlaubt? Der Gebrauch einer Sache kann zulässig und ihr Missbrauch gemeinschädlich also illegal und strafbar sein….

Die ihr die Welt in ein Ia  Trappe Kloster umschaffen, den schönen Frühling des Lebens, dessen Flucht nichts ersetzen kann, den dunklen Tagen des kalten freudenleeren Winters ähnlich machen wollt, finstere misanthropische Moralisten, ihr betrügt eure Zöglinge um den Morgen ihrer Tage, um ihr jugendliches Glück.

Predigt, wollt ihr predigen, gegen Missbräuche. Aber hütet euch die Empfindungen und Triebe der Natur zu verdammen und die kleinen Gölter der Freuden und der Scherze aus dem glücklichen Zirkel ihrer jungen Lieblinge zu bannen.

Simmias: ich denke mir Moral nur als zwekmäßige auf Vernunft und Erfahrung gegründete Anweisung zum weisen Genuss des gegenwärtigen Lebens. Die Gesetzgeber haben noch immer nichts getan um mit Zuziehung der Ärzte der unbeweibten und durch Umstände am Heiraten verhinderten Jugend ihrer Völker die Freuden der physischen Liebe zu erleichtern und möglichst unschädlich zu machen.

Unterdrücken können sie den Vermehrungstrieb nicht den die Natur ihren Geschöpfen eingepflanzt hat. Sie können es nicht und wenn sie´s könnten, so dürften sie es nicht wollen. Denn was ware der Staat ohne Bevölkerung und was die Bevölkerung ohne jenen Trieb.

Natürlich wäre es also daß sie eine dem Individuum und der Sozietät möglichst unschädliche Art diesen Trieb zu befriedigen legalisierten, sie unter den Schutz der Gesetze nähmen und Menschenfreuden auch von dieser gemeiniglich so unrecht vorgestellten Seite zu vervielfaltigen suchten .

Wilhelm Ludwig Wekherlin, Hyperboräische Briefe, in: Die Frühsozialisten 1789-1848 (1971)

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