Die Morgenblätter berichten von Vergleichsverhandlungen, aber gleichzeitig gehen die Spartakusleute in der Besetzung von wichtigen Gebäuden immer weiter. Vierzehn Russen sollen in Deutschland sein, und sie geben offenbar auf Grund ihrer Erfahrungen in Rußland die Anweisungen, welche Behörden und Stellen am wichtigsten sind zur Besetzung. Es wird planmäßig vorgegangen. Zuerst werden die Zeitungen als Vermittler der Nachrichten im Volke besetzt, heute die Bahnhöfe, um die Zufuhr von Truppen und Munition abzuschneiden, dann die Reichsdruckerei, um Papiergeld nach dem Muster der berüchtigten Rubeldruckerei zu schaffen. Das Kriegsministerium ist im Vergleich Halbpart besetzt, so daß Spartakus eine Kontrolle ausüben kann, während im Polizeipräsidium Eichhorn regiert, obgleich er von allen vorgesetzten Behörden abgesetzt ist.
Er verteilt Zehntausende von Gewehren, Granaten, Munition an alle fanatischen Arbeiter und leider auch an alle möglichen zweifelhaften Elemente. Mehrere Plünderer und Räuber sind sogar von der eigenen Partei auf frischer Tat ertappt und eingesperrt worden. Selbst die Kasernen einiger regierungstreuer Regimenter müssen sich ergeben, als Kanonen aufgefahren werden.
Jetzt abends 10 Uhr sitze ich am traulichen Schreibtisch, Helen mit einer Handarbeit neben mir, und aus der Ferne vom Anhalter Bahnhof hören wir Schießen!
Wird die heutige Nacht das Eintreffen der um Berlin stehenden Truppen bringen? Werden sie kämpfen oder sich verbrüdern? Wer wird siegen? Jedenfalls muß in den nächsten Tagen die Entscheidung fallen. Eine zweite Revolution ist angebrochen, aber diesmal gegen die Sieger in der ersten. Mancher behauptet, daß die neue Bewegung nicht möglich gewesen wäre, wenn die russischen Bolschewisten zehn, andere sagen 20 Millionen Rubel nach Deutschland gebracht hätten und nicht so hohe Gehälter von 50 bis 70 Mark für den Tag an die Spartakusleute verteilen würden.
In den Straßen waren Neugierige zu Tausenden von früh bis abends versammelt. Die Geschäfte waren straßenweise geschlossen, Ruhe nach dem Sturm! Des Abends ging ich mit Helen an den Potsdamer Platz, wo im Halbdunkel kleine Gruppen von diskutierenden Leuten herumstanden, wie sie auch den ganzen Tag über die Linden und andere Plätze füllten. Meistens nur 2 – 3 debattierende Sprecher mit sanfter Stimme und freundlichem Ausdruck – russische Art – die scheinbar harmlos plaudern und doch manch zündendes Wort in die passiv herumstehende Zuhörerschaft werfen. Kein Schreien, Schimpfen, keine Redner mit lauter Stimme, sondern gemütliche und daher mehr eindringliche Plauderdiskussionen.
Die Umstehenden, etwa 10-20 Menschen, hören interessiert zu und erhalten durch die Persönlichkeit des Sprechers, meistens Soldaten oder hagere Arbeiter mit verwitterten Gesichtern, einen viel stärkeren Eindruck, als wenn sie in der Zeitung lesen würden. …
Quelle: Aufzeichnung aus dem Tagebuch des Unternehmers und Kunsthistorikers Oskar Münsterberg (1865-1920) aus Berlin (DHM-Bestand): Münsterberg wurde 1906 Direktor der National-Zeitung in Berlin, ab 1909 Verlagsleiter in Leipzig und 1912 Direktor der Druckerei W. Hagelberg in Berlin
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